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SXSW: Die Zukunft von Ort und Zeit

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SXSW-2013Fünf Tage auf der South by Southwest (SXSW)  in Austin/Texas bedeuten eine Fülle von Sessions, Partys, Gadgets und Gesprächen. Und am Ende der weltgrößten Digitalkonferenz fragt man man sich natürlich als Besucher (und wird von anderen danach gefragt): Was war denn nun der heiße Trend?  Die Frage ist nicht unberechtigt, denn Twitter (2007) und Foursquare (2009) starteten jeweils auf der SXSW durch. Und im letzten Jahr wurde der Location Service Highlight gehypt, doch die Erwartung erfüllte sich nicht. Und diesmal? Google Glasses? Die Echtzeit-Datenbrille wurde zwar als Prototyp vereinzelt im Einsatz gesichtet, ihre Träger wollten aber nicht damit fotografiert werden. Es gab eine Präsentation für Google Developer, aber die Brille durfte dabei nicht ausprobiert werden. Bei der Präsentation wurde jedoch schon deutlich, dass die Google Brille einen ununterbrochenen Strom von Emails, Facebook-Updates und anderen Benachrichtigungen im Gesichtsfeld verursachen wird, wenn ihre Träger dem Echtzeitdatenstrom nicht widerstehen (mehr dazu bei The Verge: Death by notification: will Google Glass drown us in data?)

Noch gibt es Google Glasses nicht im Handel (geplant ist Ende 2013), doch die Brille war in aller Munde. Für mich allerdings weniger als Gadget, sondern als Sinnbild für sich verändernde Konzepte von Raum und Zeit. Echtzeitmedien und ein allgegenwärtiges Internet werden von uns verlangen, dass wir unsere Vorstellungen von Raum und Zeit anpassen. Das passiert keineswegs zum ersten Mal in der Geschichte. Kulturell haben sich unsere Perspektiven auf Raum und Zeit immer wieder verändert und einer neuen Realität angepasst, nachdem sich revolutionäre Erfindungen durchsetzten.

Erst seit Galilei ist die Erde keine Scheibe mehr. Erst die Erfindung der Eisenbahn machte es nötig, eine einheitliche Zeit mit  Zeitzonen festzulegen. Der Begriff des Jetlag als Phänomen, dass der menschliche Körper ein paar Tage Zeit braucht, um sich einer neuen Zeitzone anzupassen, existiert erst seit dem interkontinentalen Düsenflugverkehr. Nachrichtenübermittlung in Echtzeit machte erst der Telegraph möglich. So gab es früher in der Realität einiger Menschen ein Erdbeben oder einen neuen Papst, in der Realität anderer Menschen aber wochenlang nicht. Und nun verändern digitale Plattformen und Werkzeuge erneut unsere Vorstellung von Raum und Zeit und unseren Umgang damit. Dieser Gedanke zog sich immer wieder wie ein roter Faden durch einige der interessantesten Vorträge auf der Konferenz:

Douglas Rushkoff und der Echtzeit-Shock

Der Medientheoretiker, Techno-Soziologe und Bestseller-Autor Douglas Rushkoff benutzte nur eine einzige Folie in seinem inspirierenden Vortrag “Present Shock: When Everything Happens Now” , der auf seinem gleichnamigen neuen Buch basierte (s. Affiliate-Link in der rechten Randspalte).  Sie zeigte in Echtzeit eine analoge und eine digitale Uhr. Auf der analogen Uhr sieht man, wie die Zeit verstreicht, so Rushkoff. Jeder Moment hat eine Vergangenheit und eine Zukunft, ein sichtbares vor und nach der jeweiligen Zeigerposition. Auf der digitalen Uhr dagegen ist jede Minute wie 60 Sekunden Gegenwart, bis zum plötzlichen Sprung in die nächsten 60 Sekunden Gegenwart.

Rushkoff benutzt den Vergleich, um zu illustrieren, dass sich unser Leben zunehmend im Jetzt abspielt und wir das Vermögen verlieren, in längeren oder gar historischen Zeiträumen zu denken und zu handeln. Während Zukunftsforscher Alvin Toffler 1970 das Szenario des “Future Shock” entwarf, der die Menschen verunsichert, argumentiert  Rushkoff, dass wir gar keine Gefühl mehr für die Zukunft haben, weil alles jetzt auf uns einströmt und wir alles jetzt haben wollen. Er macht dieses Verhalten z.B. an der amerikanischen Tea Party fest (“Steuern jetzt runter”) und an Börsenprogrammen, die Aktien nur Sekundenbruchteile halten. Mir fallen dazu vor allem Amazons “One Click” Bestellvorgang und “Same Day Delivery” ein.

Rushkoff benennt in neuen Wortschöpfungen fünf Bereiche oder Phänomene, in denen sich das Streben nach Echtzeit durch Überforderung und den Verlust der Fähigkeit, im realen “Jetzt” zu leben, bemerkbar macht.

  • Narrative collapse: Dramaturgisches Erzählen weicht non-linearen, offenen Erzählmustern. Wie in einem Videospiel hat der Nutzer jederzeit eine Fülle von Optionen.
  • Digiphrenia: Digitale Plattformen und Werkzeuge lassen uns an vielen Orten zur gleichen Zeit sein.
  • Overwinding: Das Stauchen langer Zeiträume (alle Folgen einer TV-Serie hintereinander weggucken) oder das Einfrieren eines Moments. Rushkoff meint damit nicht die Fotografie, sondern eher ein eingefrorenes Botox-Lächeln.
  • Fractalnoia – sich und anderen keine Zeit geben, Zusammenhänge gründlich zu analysieren.
  • Apocalypto – Flucht aus der Gegenwart in Endzeitphantasien.

Rushkoff ist weder Digital-Apologet, noch Skeptiker, sondern schildert wertfrei und zu eigenem Denken anregend, vor welchen Veränderungen wir nicht in naher Zukunft stehen, sondern schon mitten drin stecken.

Leslie Ziegler und die Selbstvermessung

Nicht philosophisch, sondern ganz konkret am eigenen Leib schilderte Leslie Ziegler, welche Auswirkungen es hat, Ort, Zeit, Nahrungsaufnahme, sportliche Betätigung und eine Fülle weiterer personenbezogener Daten jederzeit zu messen, erfassen und mitzuteilen. Leslie Ziegler wurde 2009 mit einer chronischen Darmentzündung diagnostiziert und nahm dieses einschneidende Erlebnis zum Anlass, ihren Lebensstil über ein Jahr mit hohem zeitlichen, logistischen und disziplinarischen Aufwand in möglichst vielen Details zu erfassen. Sie probierte vom Nike Fuelband bis zum verschluckbaren Mikrochip so ziemlich alle Gadgets aus, die derzeit auf dem Markt sind. Sie machte damit ganz im Sinne von Jeff Jarvis Menschen Mut, offen mit schwerwiegenden Erkrankungen umzugehen und anderen durch ihre veröffentlichten Erkenntnisse zu helfen. Und sie gab praktische Tipps für die weltweite Quantified Self Bewegung und der rasant wachsenden Industrie dahinter. Ihr Rat an die Gadget-Produzenten: Macht die Geräte möglichst einfach, preiswert und unaufdringlich, damit nicht sie nicht nur von exzessiven Selbstvermessern genutzt werden.

Dennis Crowley und die Zukunft des Ortes

Für den Gründer von Foursquare ergeben die Check-Ins der Nutzer ein Abbild einer lebendigen, pulsierenden Stadt. Während des Hurricans Sandy zeigte sich, wie sehr das Leben in Teilen von New York zum Stillstand kam. Hier ein Zeitraffer-Video mit Visualisierungen der Check-Ins vor, während und nach des Sturms:

Foursquare hat sich von einem spielerischen aber letztlich zweckfreien Dienst, bei dem Nutzer miteinander wetteifern, wer am häufigsten wo eincheckt, zu einem nutzwertigen Empfehlungsdienst entwickelt. Dabei gibt es zum einen die individuelle (Echtzeit)ebene – ich kann sehen, wo meine Freunde gerade sind, wo sie waren und was sie dort empfehlen. Aggregiert ergeben die Daten von ortbasierten Diensten wie Foursquare allerdings einen Seismographen für Trends und repräsentativere Empfehlungen. Der Nutzwert für das Hier und Jetzt  geht weit über die sprichwörtlichen Restaurantempfehlungen hinaus. So kann  Foursquare mir anhand der hinterlassenen Kommentare anderer Nutzer empfehlen, ob eine Straße für Radfahrer geeignet ist. Eine soziale Verkehrsapp wie Waze kann mir anhand der Empfehlungen anderer Nutzer raten, welchen Umweg ich bei einem Stau am besten nehmen sollte. Ein Händler kann mir nicht nur in dem Moment, wo ich an seinem Geschäft vorbeifahre, ein Angebot für einen Ort unterbreiten, sondern eine Stunde vorher, so dass ich mich darauf einstellen kann. Der Händler kennt meine Routine aufgrund meiner Check-Ins.

So werden Datenbrille, Datendienste und Selbstvermessungs-Tools dafür sorgen, dass noch mehr in den Moment gepresst wird. Aus dem “Hier und Jetzt” wird zunehmend ein “Dort und Gleich” und die Anforderungen an intelligente Filter, um das wirklich für den Augenblick Relevante vom Aufschiebbaren zu trennen, werden steigen. Mein Prognose: Dieses hochinteressante Thema wird auch auf der South by Southwest 2014 noch eine große Rolle spielen.

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